Der orthodoxe Gottesdienst als Gesamtkunstwerk
Jedem neugierigen und frommen Betrachter eines russisch-orthodoxen Gottesdienstes, der aus einer der westlichen Konfessionen kommt, fällt auf, dass es hier eine Menge sinnlicher Eindrücke gibt, die in seiner Kirche nicht vorkommen. Wenn er die Barriere der totalen Überschreitung der hiesigen Vorstellungen über die Länge eines Gottesdienstes und die Barriere eines scheinbaren Verurteiltseins zum Vor-Gott-stehen-müssen überwunden hat, strömt eine Fülle von Eindrücken auf ihn herein.
Das wirkt sich auch auf die Kinder aus, die ja die besondere Einladung und Zuwendung des Erlösers genießen. "Der göttliche Kinderfreund" ist in der vergangenen Epoche leider ein beliebtes Thema für Kitschbilder gewesen. [Ich hatte ein solches grauenvolles Kitschbild in meiner Sammlung zusammen mit einem, das ganz ähnlich choreographisch gestaltet war: Der deutsche Kinderfreund Adolf Hitler, umringt von schönen deutschen Kindern. 1978 sah ich an der albanischen Botschaft in Peking ein ähnliches Bild mit dem Kinderfreund Enver Hodscha.]
Jedenfalls bieten die orthodoxen Gemeinden keine "Kindergottesdienste" an, sondern sie lassen die Kleinen hineinwachsen in das tiefe Erlebnis des Göttlichen Schauspiels der Liturgie. Und das funktioniert. Die Orthodoxie benötigt keinen künstlich geschaffenen Aktionismus für den Gottesdienst, sondern das Erlebnis der Mysterienfeier bietet genug Anreize, die den Kindern auch den langen Gottesdienst nicht langweilig erscheinen lässt.
Dafür will ich Beispiele aus der Liturgie aufweisen:
- Die Bilderwand ist keine Barriere, hinter der etwas Undurchschaubares geschieht, wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" vom 12.05.2002 behauptet, sondern die Heiligen wenden sich dem Gläubigen gleichsam von innen her zu und schaffen die Verbindung zum Heiligtum. Außerdem kommt der Diakon nach draußen und wenn er mit klingender Stimme die Ektenien vorträgt, stereophon korrespondierend mit dem Chor, so ist das ein kräftiger sinnlicher Impuls, der auch Kindern aufgeht.
- Wenn dann der Kleine Einzug mit dem Evangelium erfolgt, die Ministranten gehen voraus mit Lichtern und Weihrauch, so ist das ein starker sinnlicher Impuls, der gerade auch die Kinder beeindruckt. - Ist gar ein Bischof anwesend, der jetzt hereingeführt wird, verstärkt sich dieser Impuls.
- Der Auftritt des Lektors in der Mitte der Kirche mit der in ansteigender Tonhöhe vorgenommenen Apostelperikope, der Übergang zum Evangelium, alles in schöner Ordnung vorgenommen, reiht den frommen Betrachter selbst in die schöne Ordnung ein und die Ordnungskräfte in seinem Inneren werden unbewusst mobilisiert.
Ich hörte einmal, wie Touristen sagten: "Sieh man guck, da hab'n se 'ne orthopädische Kirche". Am nächsten Sonntag benutzte ich das als Einstieg für meine Predigt: Das war gar nicht so verkehrt, ortho = recht, aufrecht = pädia ist die Erziehung, also wir wollen auch das gerade: den Menschen anleiten zum Aufrechtstehen vor seinem Schöpfer, wie er selbst dem Gelähmten gesagt hat: Steh auf!
In diesem Sinne ruft auch der Diakon nach dem Credo zur Einleitung der Eucharistischen Anaphora, dass wir in guter Ordnung stehen sollen als Bild der Ordnung, die zum Prinzip der Schöpfung gehört.
Dass es heute Chaoten-Festivals gibt, die sogar einen festen Platz in der sanktionierten Subkultur haben, gehört zur luziferischen Versuchung des Widerspruchs gegen Gottes Gesetze. Die Würde des orthodoxen Gottesdienstes steht im krassen Widerspruch zur modernen Spaßgesellschaft, die auch nach der New Yorker Katastrophe sich weiterentwickelt. Durch Öffnung ihrer Kirchen und Gottesdienste für die Selbstverwirklichungsübungen der Popper, Rocker und Raver tragen die westlichen Kirchen Mitschuld an der allgemeinen westlichen Degeneration mit den tragischen Folgen und den ratlosen Fragen: "Wie konnte es soweit kommen?"
- Der Große Einzug mit den in kostbare Decken verhüllten eucharistischen Gaben, wie Priester, Diakon und Ministranten in den aktuellen liturgischen Farben, die mit klingender Stimme zum Volk hin deklamierten Diptycha für die weltliche und geistliche Obrigkeit zwischen dem herrlichen Gesang des Cherubimshymnus und der Duftwolke des kostbaren Weihrauchs ist ein dramaturgischer Höhepunkt der Göttlichen Liturgie. Christus selbst zieht ein, vorbereitet für das unblutige Opfer. Der Vorhang vor dem Heiligtum kann immer wieder aufgezogen werden und das Opfer wird erneuert. Einmal im Jahr beschritt der Hohepriester im Alten Bund den Weg hinter den Vorhang ins Allerheiligste. Als der Vorhang im Tempel am Karfreitag mittendurch riss, war dies das Zeichen, dass im Neuen Bund der Zugang zum Mysterium des neuen Bundes geöffnet werden kann, immer dann, wenn ein Priester sich anschickt das Opfer Christi zu feiern.
Dass der Altarraum in der Orthodoxen Kirche nicht der Allgemeinheit zugänglich ist, dient nicht nur Gott, dem als Herrscher eine bestimmte Sphäre der Absonderung gebührt, es dient auch der Gemeinde, die dadurch viel intensiver spürt, dass Gott der ist "der in unzugänglichem Lichte wohnt" (1 Tim 6,16).
- Das Fächeln über den Gaben mit dem Kelchvelum ist Zeichen des Wehens des Heiligen Geistes, ein epikletisches Moment wie auch das Schwingen der Rhipidien.
Herr Graf Tolstoj, der sich zum Naturapostel geweiht und zum Richter über die russische Orthodoxie ernannt hat, macht sich in seinem Buch "Auferstehung" über das Fächeln "mit einer Serviette" lustig, dadurch glaubte man Brot und Wein in Christi Leib und Blut verwandeln zu können. Er hielt das offensichtlich für eine magische Gestik, die die vermeintliche Konsekration bewirken soll. Dass ein Mensch mit einer ausgeprägten Sexualneurose wie Tolstoj die Sinnlichkeit der Göttlichen Liturgie missverstehen will und muss, liegt auf der Hand. Dass Tolstoj ein Genie war, ist unbestritten, dass der Teufel ein Genie ist, ebenfalls.
- Das allgemein verbreitete Niederknien nach dem Einsetzungsbericht und der Epiklese bezieht noch stärker als die Bekreuzigungen, Kleinen Metanien und Hauptbeugungen die Körperlichkeit in den Prozess von Heiligung der Vor-Gott-Stehenden ein. Zwischen Ostern und Himmelfahrt verzichtet man darauf und das macht die Besonderheit der österlichen Heilsperiode so eindrücklich und das große unmittelbar erlebte Ereignis der Auferstehung so greifbar.
- Bei der Heiligen Kommunion sind es vor allem wieder die Kinder, die, sobald sie selbst laufen können, in gottgefälliger Ordnung zum Kelch streben. Natürlich können sie die theologische Tragweite der Kommunion noch nicht erfassen, spüren aber, dass hier etwas zu ihrem Heil geschieht. Wieder ist es auch das sinnlich erfahrbare, was für sie die Kommunion so angenehm macht: sie schmeckt gut. Für die Zurüstung wurden frisch gebackene, duftende Prosphoren verwendet, der Wein ist süß und aromatisch und vorher goss der Diakon kochendes Wasser ein mit den Worten: "Glut des Glaubens, voll des Heiligen Geistes." Die heilige Kommunion wird also warm gereicht und insgesamt wird hier natürlich viel direkter erfahren, dass Christi Leib etwas Lebendiges ist, als bei Benutzung von Oblaten als eucharistisches Brot, was von der Orthodoxie schon seit jeher heftig bekämpft wurde.
Natürlich könnte man auch aus dem Abendgottesdienst oder den Riten in der Karwoche und der Feiertage noch viele Beispiele anführen, die beweisen, dass der Orthodoxe Gottesdienst ein Gesamtkunstwerk ist, der den ganzen Menschen in seinen sinnlichen Erfahrungsbereichen anzusprechen vermag.
Der Ausdruck "sinnlich" wird heute eher für eine Vorstufe zu unerlaubten sexuellen Handlungen benutzt. Tatsächlich ist der Mensch als Sinnenwesen verführbar, seine Augen können einem Menschen anhaften, der zur Sünde verführt, sie können aber auch am Bild der Gottesmutter anhaften, wie sie aus dem Goldgrund der Ikone auf uns blickt und uns ihren mütterlichen Segen schenken will.
Das rote Lämpchen vor der Ikone schenkt den Sinnen eine wundervolle Ruhe, das Rotlicht im Dämmer eines Bordellbetriebs verführt die Sinne zur Unruhe der sündigen Erwartung. Die gottesdienstlichen Gewänder lenken die Sinne hin zur unvergänglichen Schönheit des himmlischen Jerusalem, die Kleidung eines Playboys oder einer Dirne lenken die Sinne auf die flüchtige Begehrlichkeit einer vergänglichen Welt.
Das Parfüm einer liederlichen Frau soll den Freier für ihre sündigen Reize betören, der Duft des Weihrauchs leitet die Sinne an zur Sammlung im Gebet.
Die Musik der Rocker, Popper und Raver stachelt die niederen Triebe der menschlichen Natur an, die orthodoxe Kirchenmusik befriedet den unruhigen Geist und erleichtert die Hinwendung zur Schönheit des verheißenen Paradieses.
Die Musik ist von allen sinnlichen Erfahrungen die imprägnanteste. Der äußere (nicht äußerliche) Eindruck eines Gottesdienstes wird entscheidend von der Qualität der Kirchenmusik mitgeprägt. Eine herrliche Ikonostase, goldene Rauchgefäße mit kostbarem Weihrauch und prachtvolle liturgische Gewandung werden als Gesamtkunstwerk erst durch die musikalische Ausdeutung des Gesamtbildes fassbar.
Einführung von Instrumentalmusik sollte kein Thema sein. Wo so etwas gemacht wird, ist das Flair des Gottesdienstes sehr verfremdet. Als Entschuldigung hört man, die Sänger könnten ohne Stütze nicht singen, Schande über ihr Haupt! Wo schon mal eine Orgel steht, ist dann der Weg zu lärmender Untermalung der Einzüge nicht mehr weit.
Die Musik ist aber auch am ehesten gefährdet in das Missverständnis eines liturgischen Ästhetizismus abzugleiten.
Natürlich spielt eine verfeinerte Ästhetik beim Gesamtkunstwerk Gottesdienst eine wichtige Rolle, wie gezeigt wurde. Doch muss die Ästhetik ganz auf die höhere Ehre Gottes ausgerichtet sein. Der persönliche Wunsch des Kirchensängers nach Anbetung ist genauso wichtig wie der des Zelebranten.
Ich will nun einige Gefahren aufzeigen, die vorkommen können:
- zu konzertante Vertonungen
- zu wenig Beachtung der Landessprache
- zu wenig Interesse am Gemeindegesang
- zu wenig Interesse am Chorgesang
(A. Irinäus Totzke: "Rustikalisierung des Kirchengesangs")
Deshalb steht alles was bebaut, gemalt, genäht, verziert, vergoldet und gesungen wird im höheren Lichte der pastoralen Realität, "dass die Mysterien des Christentums nicht durch den Katechismus, sondern durch die Liturgie weitergegeben werden. Information ... erfolgt in Schule und Haus, das Eigentliche aber ist die Liturgie selber. Liturgie jedoch ist Feier, und Feier spielt sich auf einer andern seelischen Ebene ab als Unterrichtung" (A. I. Totzke in "Die beiden Türme" 1/2002).