In einer bestimmten Schicht unserer Bevölkerung ist das Wort "Ikone" ein wahrhaftes Zauberwort. Damit verbindet sich die Vorstellung von etwas echtem, altehrwürdigen, von eindrucksvollen Sammlerstücken und einer guten Geldanlage. Verkaufsausstellungen von Ikonen laufen in der Regel gut.
Für den orthodoxen Christen ist das Betrachten einer Ikone ein Spaziergang für seine Seele. Er verläßt diese begrenzte Welt und taucht ein in die höhere Dimension des Goldgrundes, wo ihm die dargestellten Personen tatsächlich begegnen. Nach unserer orthodoxen Überzeugung läßt die Ikone das Göttliche in dieser Welt durchscheinen, sie vermittelt etwas vom Glanz des himmlischen Jerusalem.
Wegen dieses Offenbarungsglaubens rückt auch das Malen der Ikone in die Sphäre der christlichen Askese. Für die Alten war es selbstverständlich, daß der Ikonenmaler fastet und die Gebetszeiten einhält. Fast immer waren es gottgeweihte Personen, die die Malerei ausführten. Deshalb gab es auch ursprünglich keine Ikonenweihe, die Ikonen wurden durch das fromme, vorschriftsgetreue Malen geweiht. Seit alle möglichen Leute sich des Ikonenmalens befleißigen und Ikonen auch industriell hergestellt werden, weiht man die Ikonen. Auch alte Ikonen, die irgendwo verschachert wurden und auf Märkten herumgeflogen sind, bringt man in die Kirche zum Weihen. Dabei gibt es in der Orthodoxie lokale Unterschiede. Bei den Griechen bleibt die zu weihende Ikone 40 Tage in der Kirche, damit ist sie geweiht. Bei den Russen gibt es den Ritus der Ikonenweihe. Bringen aber die Leute die Ikone, bevor die Göttliche Liturgie gefeiert wird, so besprengt der Priester die Ikone mit Weihwasser und legt sie dann auf den Altar, wo sie während der Liturgie bleibt. Oftmals empfangen sie auch über den konsekrierten eucharistischen Gaben die Heiligung.
Für das orthodoxe Verständnis von einem Kultbild ist das eben Gesagte sehr wichtig. Natürlich ist nach der Weihe die physikalische und chemische Zusammensetzung und die Maltechnik nicht anders, jedoch hat sich nun unsichtbar der Wandel von einem materiellen Wert zu einem geistlichen Objekt vollzogen. Durch die Weihe ist das Bild dem weltlichen Gebrauch entzogen und der Besitzer trägt eine religiöse Verantwortung dafür.
Hat jemand eine neue Wohnung bezogen, stellt er seine Ikonen in der krasnyj ugol auf und bestellt den Priester, auf daß er die ganze Wohnung segne. Man spricht auch von der Wohnungs-"Weihe", weil sie einem dann nicht mehr ganz allein gehört, man hat sie zu einem bestimmten Grad der Weltlichkeit entzogen und dem Herrn einen Platz angeboten, darin mitzuwohnen. Man hat jetzt eine erhöhte religiöse Verpflichtung übernommen. Ein Auto oder einen Hühnerstall kann man segnen, aber von Weihe spricht man nur, wenn etwas dem weltlichen Gebrauch ganz entzogen wird. Wenn die Arbeiter mit ihren Wurstbroten und lockeren Reden aus einer neugebauten Kirche verschwunden sind, wird sie zum Haus Gottes geweiht und darf nicht mehr für weltliche Anlässe genutzt werden.
Wir sehen, wie in der Orthodoxie alles hindrängt zum Urbild einer paradiesischen Einheit mit Gott, wo das weltliche Sinnen und Trachten zu Ende ist. Die Ikone ist das Fenster zur Schönheit des himmlischen Zion, wo Gott von den Engeln und Heiligen gepriesen wird. Das Bilderverbot des Alten Testaments stand im Einklang mit dem Kampf der Gerechten gegen die Abgötterei der das auserwählte Volk umgebenden Völker. Der unsichtbare, geistige Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kann nicht im Schnitzbilde eingefangen, eingegrenzt werden. Mit der Menschwerdung Christi ist das Bildergebot nicht mehr aktuell, denn Christus ist das Bild Gottes auf Erden und so sind die Ikonen eine logische Konsequenz der Inkarnation. Nachdem Gott Fleisch angenommen hat, kann Er auch im Fleische dargestellt werden, allerdings auch nicht anders.
Die Heiligen sind Christusträger, am deutlichsten sichtbar bei der Gottesgebärerin, sie trug den Herrn im Leibe. Christophoros trug ihn auf den Schultern. Alle Heiligen sind Christophoren, weil Christus in ihnen wohnte und sie Zeugnis ablegten für das Göttliche Wort. Deswegen dürfen sie auch gemalt werden und werden verehrt. Die sinnliche menschliche Sphäre kann dadurch geheiligt werden, daß sie durch Bekreuzigen, Küssen und Beräuchern sich dem Heiligen nähert, natürlich nicht den Materialien des Abbildes, sondern dem Urbild, was dahintersteht.
Ein junger Mann muß für einige Zeit seine Verlobte in die Ferne ziehen lassen. Auf seinem Nachttischchen steht ein Bild mit der Photographie des Mädchens. Der junge Mann seufzt, nimmt das Bild, drückt einen Kuß auf das Bild und stellt es zurück an seinen Platz.
Hat er das getan, um die Form des Rahmens, das Glas, das Photopapier und die Farbe zu ehren? Nein, der Kuß gilt natürlich nicht dem Abbild, sondern dem Urbild, das, ohne daß man in tiefsinnige psychologische oder gar parapsychologische Betrachtungen verfallen müßte, als selbstverständlich dahinterstehend angesehen wird.
Im "Bilderstreit" (726-843) wurde die Ikonenverehrung zum Anlaß für einen Versuch des byzantinischen Staates, die Macht der Kirche im Reich zu brechen. Die Kirche, vor allem das Mönchtum, war eine Macht im Staate, an der die Kaiser nicht vorübergehen konnten. Leon III., der Isaurier (717-741), der auf allen Gebieten eine absolute Herrschaft anstrebte, sah eine Chance darin durch das ikonoklastische Edikt des Jahres 726.
Dieses Edikt führte zur Zerstörung von unzähligen Ikonen und Bildern in Kirchen und Häusern, zu Aufständen und zur allgemeinen Verfolgung der Mönche im Byzantinischen Reich. Auch für seinen Nachfolger Konstantin V. (741-775), "Kopronymos" [= "der Mistkerl"], wurde die Bilderfrage als Vorwand genommen, das Mönchtum auszurotten und den Einfluß der Kirche auf das Volk einzudämmen.
Erst unter Kaiserin Irine wurde die Verfolgung eingestellt. - Sie bestieg 780 als Vormund ihres neunjährigen Sohnes Konstantin Vl. den Thron. Unter ihrer Regentschaft wurde 787 das Siebte Ökumenische Konzil von Nikäa einberufen. Das Konzil erklärte die Bilderverehrung für rechtens, die Bilderverehrung wurde wiederhergestellt mit der Bestimmung, daß den Bildern, wie dem Heiligen Kreuz, dem Evangelienbuch, den Reliquien und allen Heiligen die timitiki proskynisis, die ehrfürchtige Verehrung zukomme, nicht zu verwechseln mit der alithini latria, der wahren Anbetung.
Doch unter den folgenden Kaisern flammte die Verfolgung der Bilderverehrer mit der Durchsetzung absolutistischer Staatsgewalt wieder auf. - Erst unter Kaiserin Theodora wurde am 1. Fastensonntag 843 in einem feierlichen Akt in der Hagia Sophia von Konstantinopel die Entscheidung von 787 wieder in Kraft gesetzt. Seither feiert die Orthodoxe Kirche jedes Jahr am 1. Fastensonntag das "Fest der Orthodoxie" durch eine Prozession mit Ikonen.
Wichtigstes Merkmal des symbolhaften Bildes ist seine Zweidimensionalität, das Fehlen der Perspektive. Durch das Fehlen der Wirklichkeitsillusion wird sichtbar, daß das Bild nicht selbst die Wirklichkeit ist, sondern diese lediglich im Abbild beschreiben möchte. Deshalb kann es auch keine künstlerische Freiheit in der Ikonenmalerei geben, sondern der Maler versteht sich als "Ikonograph", einer der die Ikone "schreibt", so wie einen Hymnus. - Auch gibt es keine Statuen oder dreidimensionalen Darstellungen (Kruzifixe), die verehrt werden. Nach orthodoxer Auffassung sind diese bis heute dem Volk Gottes verboten, weil sie der Verführung zum Götzendienst zu wenig Widerstand bieten.
Als Preisgesang zum Gedächtnis des Sieges der Orthodoxie über die lkonoklasten singen wir am 1. Fastensonntag das Kondakion im 8. Ton:
Das unumschreibbare Wort des Vaters nahm aus dir Fleisch an, Gottesgebärerin, und ward umschrieben; / das verdunkelte Abbild hat es umgebildet ins Urbild und verband es mit göttlicher Schönheit. // Wir bekennen das Heil im Werk und im Worte und stellen es im Bilde dar.
In den orthodoxen Hymnen ist ihre Theologie enthalten:
In der Herrlichkeit des Vaters ist der Logos nicht auszumachen, doch durch das jungfräuliche Gebären der Gottesgebärerin wurde er greifbar.
Das verdunkelte Abbild ist der gefallene Adam, im Erlösungswerk Jesu Christi kehrt er wieder zur ursprünglichen Schönheit zurück.
Es folgt unsere Antwort durch das was wir tun und sagen, die Christusikone ist dabei unser Leitbild.
Auch die Marienikone ist eine Christusikone, die Gottesgebärerin wird immer zusammen mit dem Göttlichen Kind dargestellt, auch die Ikonen der Heiligen sind christozentrisch gedacht. Die orthodoxen Gläubigen kämen sich ohne die erfahrbare Gemeinschaft der Heiligen in der Kirche überfordert, allein und einsam vor. Sie sind daher dankbar für das Band, das sie durch den Kult mit der Räumen der Ewigkeit verbindet.
Der Weg der Orthodoxie ist kein Weg der Abstraktion von der sinnlichen Sphäre des Menschen, wo im Sinne der "Reformatoren" Christus nur im gedruckten Wort der Bibel gefunden werden kann, allenfalls noch in einem dürftigen Rest von Symbolik.
Der orthodoxe Weg bezieht bewußt die sinnliche Sphäre des Menschen in den Lobpreis Gottes ein, unsere Verpflichtung besteht nicht in der Abstraktion der Sinne, sondern in ihrer Heiligung, da sie den Menschen sowohl verführen können zum Schweigen in übler und verderblicher Sinnlichkeit, aber auch anregen, mitzubauen an der Vorabbildung des Königtums Jesu Christi hier auf Erden und zur Sehnsucht nach der Schönheit des irdischen Zion.
Pornographische Bilder ziehen den Menschen in die satanische Sphäre niederer Gelüste und können ihn zum geistlichen Tod führen. Die heiligen Bilder ziehen den Menschen in die himmlische Sphäre der Erneuerung des Menschen durch den Heiligen Geist und können zu seiner Rettung beitragen.
Das schummrige Licht eines Halbweltlokals, das Rotlicht, ist Zeichen der Hingabe des Menschen an dunkle Triebe, die ihn beherrschen und moralisch vernichten. Das warme Licht der Olivenöllämpchen vor den Ikonen sind Zeichen der Hingabe des Menschen an das Prinzip der Vergöttlichung der Welt, der meditativen Ausrichtung des Geistes an die ewige Schönheit des Himmels.
Der Duft des Parfüms einer liederlichen Frau ist Symbol der Verführung auf der breiten Straße hinab ins Reich des Antichrist. Der Duft des Weihrauchs ist Symbol des Aufstiegs im Gebet, zu seligem Sinnen regt er an, sich zu entscheiden für den schmalen, steilen Weg nach oben.
Die Gewänder von Dirnen oder Dandies zielen darauf ab, eine Welt zu gestalten, die sich den Augenblick erobert hat, die sich voller Genußsucht auf den heutigen Tag stürzt, die exzessiv die Lüste auskosten möchte, bevor Alter, Krankheit und Tod ihre Ansprüche anmelden. Die Gewänder der Bischöfe, Priester und Diakone zielen darauf ab, eine Welt zu gestalten, die sich mit den Ewigkeitswerten befaßt, mit dem unvergänglichen Königreich Christi, das nach seinen Worten "nicht von dieser Welt ist".
So wird die Materie durch die Orthodoxie geheiligt und der Kosmos durchdrungen von der Idee der Heiligung der Welt.
Die Musik der Rocker, Popper und Raver ordnet den Körper des Menschen nach dem Prinzip der Stimulierung seiner Triebsphäre. Was für die meisten Jugendlichen heute selbstverständliche tägliche Praxis ist, war für Naturvölker ein seltener Höhepunkt als Fruchtbarkeitszauber, eine Beeinflussung des Hormonhaushaltes zum Zweck der Fortpflanzung und Erhalt der Sippe. Die orthodoxe Kirchenmusik ordnet den Körper des Menschen nach dem Prinzip der Stimulierung seiner religiösen Empfindsamkeit. Die traditionellen, immer wiederkehrenden Melodien senken sich tief in die Seele des Gläubigen und lassen ihn etwas erahnen von der himmlischen Liturgie in der Anschauung Gottes, die manche falsch gepolte Menschen allerdings als ziemlich langweilig empfinden, weshalb sie sich allerhand schwachsinnige Geschichten ausdenken wie z.B. "ein Bayer im Himmel" oder den "Boandlkramer". Das ist nicht das, was Christus gemeint hat, wenn er von der Tischgemeinschaft mit Abraham, Isaak und Jakob spricht. Dieses ist auch ein Bild, das der Herr gezeichnet hat für das, was unaussprechlich ist, aber als wahrer Mensch hat er sich auch eines Abbildes bedient, hinter dem die himmlische Kommunität steht.
Sie sehen also, daß wir Ikonen, wenn wir sie wirklich kennen und lieben lernen wollen, nicht isoliert betrachten können. Es sind Kultbilder, die die orthodoxe Lebensweise begleiten, sonst nichts. Die heute weitverbreitete Methode der Teilidentifikation mit der Orthodoxie durch Fans von russisch-orthodoxen Männerchören und Sammlern von Ikonen vermittelt nur einen kleinen Ausschnitt aus der Fülle der Überlieferung.